Fastenpredigt von Pfarrer Wagner

Wie heute von Gott sprechen?
oder
Theologie in der Krise neu formulieren
2 Chr 36,14-23 und Joh 3,14-21 (4. Fastensonntag B)

I

Liebe Schwestern und Brüder im Herrn!

„Das war noch vor Corona“ und „Das machen wir dann nach Corona“. Diese gelegentlich gehörte Redeweise klingt fast wie eine neue Zeitrechnung anstatt der bisher üblichen „vor Christus“ und „nach Christus“. Offensichtlich haben die Pandemie sowie der immer wieder thematisierte Klimawandel und so viele andere Probleme unserer Welt etwas unübersehbar werden lassen, was sich schon lange angedeutet hat: die Komplexität, die Vielschichtigkeit der Wirklichkeit und damit verbunden die Notwendigkeit, mit ständiger Ungewissheit umzugehen.

Da geht es uns in der Kirche und in der Theologie als „Rede von Gott“ nicht anders. Die Vorstellung eines Gottes, der wie ein starker Mann in das Weltgeschehen eingreift, will heute niemand mehr so recht glauben. Die klassische Gottesrede von einem allmächtigen, ewig unveränderlichen Gott hat Fragezeichen bekommen. Vielleicht sind ja tatsächlich die uns allen geläufigen Gottesbilder zu männlich, zu herrschaftlich, zu menschlich? Wie ist es denn zum Beispiel mit den Zeilen des gängigen Kirchenliedes „Lobe den Herren“, in denen es heißt: „… der alles so herrlich regieret“? Ist das nicht ein eklatanter Widerspruch zu der uns weltweit umgebenden und oft täglich erfahrbaren leidvollen Wirklichkeit?

Seit Corona befindet sich die Welt in einem Krisenmodus – und nicht nur seitdem. Dabei gab es doch so viele auch säkulare Heilsversprechen: Der Wohlstand und der Frieden der Wohlstandsgesellschaft in unserem Land – freilich auf Kosten der Menschen in anderen Teilen der Erde.

Und jetzt? Ist uns nicht vielfach der Glaube an das Machbare abhanden gekommen, brüchig geworden? Dabei hatte doch auch das II. Vatikanische Konzil voller Begeisterung der menschlichen Gesellschaft den Glauben angeboten, damit wir gemeinsam in die Zukunft gehen können.

Und jetzt? Wachstum und Fortschritt sind ins Wanken geraten; Ungewissheit, Kurzfristigkeit und Unsicherheit prägen auf einmal unser Leben und auch unseren Glauben.

Was also können wir als Christen, als Kirche, den Menschen sagen, deren Welt aus den Fugen geraten ist? Manche sind schnell da gewesen und haben von einer Strafe Gottes gesprochen, die über uns hereingebrochen sei. Andere vermieden diesen Ausdruck und sprachen lieber von einer „Kette von Schuld und menschlichem Versagen“, deren Folge die Pandemie sei. Dabei gibt es eine Natur des Todes schon lange bevor es den Menschen gab.

Andere suchten nach dem Guten, das eine solche Krise ja auch hervorbringen könne. Das kann natürlich geschehen. Aber: Hilft all das einem Menschen weiter, der schwer erkrankt ist, der seinen Angehörigen einsam und qualvoll sterben sah, der seine Arbeit und seine berufliche Existenz zu verlieren droht, der sich zunehmend einsam und verloren fühlt?

II

Wie also, liebe Schwestern und Brüder im Glauben, können, dürfen wir heute verantwortet von Gott reden?

Zunächst einmal sollten wir angesichts der vielfältigen Probleme nicht nichts sagen, also verstummen. Dabei ist aber mehr gemeint, als Anweisungen zur Liturgie unter Corona-Bedingungen zu geben. Es geht vielmehr um die Frage, wie das derzeitige Virusgeschehen theologisch zu deuten ist.

Damit – und das spüren Sie schon an den vielen Fragezeichen, die Sie bereits gehört haben – damit muss sich eine gewisse Vorsicht verbinden, dass wir in unserem Sprechen von Gott dem Fragen mehr Raum geben und Antworten nicht vorschnell als Gewissheit darstellen. Zu dieser fragenden Theologie gehört es ganz wesentlich dazu, Klagen und Trauer zuzulassen, wie es etwa die Psalmen tun. Schon der alttestamentliche Beter freilich – und das sollten wir nicht übersehen – verbindet mit seiner Klage immer auch die Hoffnung und das Vertrauen, dass Gott da ist auch in der Not.

Wie also sprechen von Gott? Gerade die weltweite Gefährdung muss meinen Blickwinkel verändern. Nicht mehr eine persönliche Gottesbeziehung im Sinne eines „Ich und mein Herrgott“, sondern eine persönliche Gottesbeziehung mit dem Blick auf die Welt, auf die leidende Schöpfung, auf die Menschen überall. Alles andere würde zu einem Heilsegoismus führen, der dem Begriff „katholisch“ (also weltumfassend) total widersprechen würde.

Sicher erinnern Sie sich noch an die Ansprache des Papstes am 27. März 2020 auf dem verregneten Petersplatz, wo er unter anderem sagte: „Der Herr fordert uns heraus, und inmitten des Sturms lädt er uns ein, Solidarität und Hoffnung zu wecken und zu aktivieren, die diesen Stunden, in denen alles unterzugehen scheint, Festigkeit, Halt und Sinn geben“.

Die Rede von Gott muss also nach den Worten des Papstes immer im aktuellen Handeln Gestalt annehmen, im bewussten Einsatz für andere. Das sind ja auch die Kriterien, die das Matthäusevangelium (Mt 25) deutlich benennt: „Ich war krank und du hast mich besucht. Ich wardurstig, und du hast mir zu trinken gegeben…“. Da ist nicht vom Glauben die Rede, nicht von Gottesdienst und Gebet – sondern vom einfachen Hinschauen auf die jeweilige Not der Menschen.

III

Liebe Schwestern und Brüder!

Und doch bleibt die Frage: Warum müssen so viele Menschen an Covid-19 sterben? Ist Gott dafür verantwortlich? Was bringt es mir, wenn ich in der Krise an Gott glaube? Eins ist klar: „Eine nüchterne, vernunftbasierte Religion – so der Mainzer Alttestamentler Thomas Hieke – ist allemal besser als jede Verschwörungsideologie, die nur aus Hass bestimmte Gruppierungen oder Minderheiten beschuldigen will“.

Die Frage ist: Wenn es den Gott unseres Glaubensbekenntnisses gibt, kann es dann etwas auf der Welt geben, das völlig losgelöst von Gott passiert? Wenn wir die Stelle Gottes streichen, was bleibt dann: ein Unfall, der Zufall? Gläubige Menschen, wie sie uns in der Bibel begegnen, würden versuchen, hinter allem einen Plan Gottes zu sehen – nicht eines Gottes, der Menschen mit einer Krankheit töten will, sondern eines Gottes, der ganz anders ist und ganz anders handelt, als unsere Logik argumentieren würde. Der schon zitierte Thomas Hieke nennt dazu einige Beispiele: „Als Gott sein Volk aus Ägypten befreit, schickt er nicht eine Legion Engel, um die Ägypter zu verdreschen, sondern bewegt das Wasser. Als eine feindliche Armee Jerusalem belagert, schickt Gott kein Engelheer, sondern eine kluge, tapfere und schöne Frau namens Judith“. Diese biblischen Erzählungen sind Deutungen von menschlichen Erfahrungen, die nach einem Sinn suchen in dem, was geschieht.

Virologen, die derzeit eine überragende Arbeit machen, fragen nicht nach dem Sinn der Pandemie. Als Theologe könnte ich sagen, dass die Pandemie vielleicht ein Zeichen für uns ist, dass wir so nicht mehr weiterwirtschaften und die Erde, Gottes Schöpfung, zerstören sollen. Das ist keine naturwissenschaftliche Wahrheit. Gibt es überhaupt einen naturwissenschaftlich zwingenden Grund für den Ausbruch dieser Pandemie?

Aber aus der Sicht der Vernunft kann ich sagen, wir müssen endlich unseren Umgang mit den Ressourcen der Welt und mit den armen Menschen ändern. Aus der Sicht des Theologen, der vernünftig auch den Blick auf Gott einbezieht, kann ich von Gott sprechen, der dem Menschen die Freiheit und die Vernunft gegeben hat, aber eben auch die Verantwortung für das Leben. Wenn Gott das Leben will, kann er das auch durchsetzen – seine Wege dazu mögen wir vielleicht nicht immer verstehen.

Vernunft und Denken unter Einbeziehung der Möglichkeiten Gottes – das können wir den Verschwörungserzählungen entgegensetzen. „Die Bibel“ – so noch einmal Thomas Hieke – „spricht von einer Welt mit guten Lebensmöglichkeiten für alle Menschen, und nicht nur für eine reiche, weiße, westliche, sich als dominant gebärdende Minderheit…….Gott will, dass wir nicht so weitermachen wie bisher, sondern unseren Lebensstil….. ändern, so dass alle, Menschen, Tiere und Pflanzen auf diesem Planeten sehr gut leben können“.

Noch einmal: Wenn es den Gott unseres Glaubensbekenntnisses gibt, dann hat er auch etwas mit dem Corona-Virus zu tun. Aber was und wie muss man sich das vorstellen? Sehr schnell sind wir da nämlich bei der sog. „Theodizee-Frage“, also der Frage, wie ein allmächtiger und gütiger Gott Leid zulassen kann – eine Frage, die seit biblischen Zeiten die Menschen bewegte, die ihren Verstand nicht abschalten wollten, wenn es um den Glauben ging. Lösen lässt sich diese Frage wohl nicht, auch nicht dadurch, dass man die Allmacht Gottes in Frage stellt.

Die Bibel gibt uns vielleicht einen Hinweis, wenn sie schon in der Schöpfungserzählung darauf hinweist, dass Gott den Menschen wollte als ein Wesen, das ihm in Freiheit gegenübersteht. Dies war ein langer Entwicklungsprozess. Die Freiheitsgeschichte setzt die Generationenfolge der Naturgeschichte und der Evolution voraus. Und Evolution ist nicht denkbar ohne ständigen Wandel, nicht ohne Katastrophen, nicht ohne Krankheit und nicht ohne Tod. Ein Beispiel – vereinfacht gesagt: Zellen unseres Körpers können mutieren und Krebs verursachen. Könnten sie nicht mutieren, hätte es keine Säugetiere und niemals einen Menschen gegeben.

IV

Liebe Schwestern und Brüder!

Der Kern des christlichen Glaubensbekenntnisses liegt in dem Satz „et incarnatus est“ – Gott hat Fleisch angenommen und sich in allem uns gleichgemacht. „Wenn Gott sich so radikal mit dem Menschen identifiziert haben sollte – so eine interessante Schlussfolgerung des Freiburger Fundamentaltheologen Magnus Striet – so hat er sich auch den naturwissenschaftlich beschreibbaren Prozessen ausgesetzt…Diese Prozesse ermöglichen Leben in seiner vielfältigen…Form. Aber sie vernichten es auch….der menschgewordenen Gott (ist) in das Geschehen eingegangen, das wir biologische Evolution nennen“.

„Wenn wir also an Gott als den Schöpfer glauben – so Striet weiter -, dann ist er auch der Gott des Werdens und des Vergehens, dann gebietet er auch dem Virusgeschehen nicht einfach Einhalt. Dieser Gott hat die Pest nicht verhindert, sondern darauf vertraut, dass der Mensch diese Krankheit in Griff bekommt….Wird ihm vielleicht manchmal schwindlig, wenn er ansehen muss, was Menschen widerfährt, nur weil sie biologische Lebewesen sind?…Jesus war empathisch, und ist er die Selbstoffenbarung Gottes, dann ist auch…der eine Gott empathisch…Wer diesen Gott glauben kann, darf darauf hoffen, dass nicht die Biologie das letzte Wort über ihn und seine Sinnbedürfnisse hat“.

Liebe Gottesdienstgemeinde!

Wie heute von Gott reden? – so haben wir uns gefragt. Ja, wahrscheinlich sind da mehr Fragen als Antworten. Aber Theologie heißt ja nicht nur, über Gott zu reden, sondern auch, dass Gott zu uns redet, vornehmlich in den Ereignissen der Geschichte.

Die Gemeinden der Bibel haben sich mit den konkreten geschichtlichen Situationen auseinandergesetzt, haben mit dem Leid der Menschen gerungen und Solidarität im Leiden gezeigt. Bei allem haben sie immer an der Liebe und am Erbarmen Gottes festgehalten.

Im Schlusssegen der Messe haben wir in unserer Gemeinde versucht, diese Tatsache ins Wort zu bringen und damit in Erinnerung zu halten: Nicht einfach „es segne euch der allmächtige Gott“, sondern „es segne euch der IN SEINER LIEBE allmächtige Gott“.

So können und dürfen wir von Gott sprechen. Amen.